Vor einiger Zeit spielte ich mit dem Gedanken, an einem Kurzgeschichten-Wettbewerb teilzunehmen. Einen Text hatte ich zwar begonnen, jedoch nicht rechtzeitig fertiggestellt, um am Wettbewerb teilzunehmen. Nun ist er fertig. Man verzeihe mir die Länge, die für einen Blog doch eher an der oberen Grenze liegt.

Trotz eisiger Kälte an diesem Februarmorgen kurz nach sechs Uhr ist im Briger Bahnhofskiosk eine leicht bekleidete Dame unterwegs. Leicht schwankend auf der Suche nach Frühstück. Oder Abendessen. So genau scheint sie das nicht zu wissen. Sie macht sich auf den Heimweg. Für mich hingegen geht die Reise erst richtig los. Soll sie zumindest. Um einen morgendlichen Flug am Flughafen Malpensa erreichen zu können, musste ich bereits am Vorabend etwas näher an Italien ran. Über Domodossola und Gallarate lässt sich der Flughafen so theoretisch rechtzeitig erreichen. Und bedeutend billiger als mit dem Flughafenexpress, der vom Mailänder Hauptbahnhof nach Malpensa fährt. Nur: Bereits in Brig wird das Unbehagen, das mich oft bei Zugreisen nach Italien oder auch nur ins Tessin beschleicht, handfest. Die Lichter im bereitgestellten Zug nach Domodossola gehen aus. Der Kondukteur ist ähnlich verwirrt wie die fünf Reisewilligen. Auf dem Hinweg von Domodossola hätte doch alles funktioniert. Die Bahnhofsanzeige wechselt von elf auf 14 Minuten Verspätung. Leichte Nervosität macht sich breit. Wenn dieser Zug nicht bald fährt, ist mein Anschluss in Domodossola nicht zu erreichen. Die Bahnhofsanzeige zeigt 21 Minuten Verspätung an. Wie die das wohl berechnen, wenn niemand den Fehler kennt? Die Nervosität lässt mich zum dritten Mal den Kondukteur fragen, was denn nun Sache sei. Die Lokomotive mache nicht mehr mit und im Depot gehe keiner ans Telefon. Der Lokomotivführer sei bereits im Sprint unterwegs dahin. Die Bahnhofsanzeige klettert auf 29 Minuten Verspätung. 45 Minuten. Die neue Lokomotive ist da, es geht endlich los. Gallarate erreiche ich mit einer Stunde Verspätung. Busse zum Flughafen hats hier aber immer wieder. Ich treffe drei Westschweizer Touristen. Es entwickelt sich ein Gespräch. Ich mit gebrochenem Französisch, sie mit gebrochenem Deutsch. Dazwischen fragen wir den Busfahrer in gebrochenem Italienisch, wann wir denn Malpensa erreichen würden. Ich merke, dass ich froh bin um die Gesellschaft. Das nimmt mir die Nervosität. Ich schaffs rechtzeitig. Die Westschweizer? Ich weiss es nicht.

Der Bahnhof Wil sieht heute anders aus. Wo sonst Regionalbusse darauf warten, die heimkehrenden Pendler in die umliegenden Dörfer zu befördern, stehen Reisecars. Und ein Stadtbus aus St.Gallen. Über den Bahnhofsplatz hetzen Mitarbeiter der SBB in orangen Westen und verteilen kleine Flaschen Mineralwasser. Das Care-Team. So heisst mittlerweile offenbar jeder Soforteinsatztrupp, der sich in Notsituation um Hilflose kümmert. Und Hilflose gibts am Bahnhof Wil an diesem Abend einige. Die SBB leidet unter einem Stromausfall, der das ganze Netz erfasst hat. Die eigene Stromversorgung – sonst Segen – wird heute zum Fluch. Nur für mich nicht. Ich arbeite im Schichtbetrieb und freue mich, zu spät zu kommen. Die Arbeit ist nicht schlecht, aber ich will vor allem Geld verdienen, um vor dem Studium etwas auf die Seite legen zu können. Und in der Schichtarbeit verdient man besser. Heute habe ich die Spätschicht. Vielleicht. Wenn man mit einem der letzten Züge zur Arbeit fährt, ist nicht viel Spielraum drin, wenn das Bahnnetz ausfällt. Eine Stunde später komm ich doch noch von Wil weg. Die SBB entschuldigt meine Verspätung. Eine halbstaatlich legitimierte Schichtverkürzung. Um eine Stunde. Immerhin.

Das Bahnnetz Englands hat nicht gerade den besten Ruf. Umso mehr hat es mich erstaunt, dass bisher alles problemlos funktioniert hat, wenn ich in meinem dreimonatigen Sprachaufenthalt in Brighton mit dem Zug irgendwo hinfuhr. Also müsste es ja auch diesen Sonntag funktionieren, an dem ich von einem Wochenendausflug zurückkehre. Schliesslich liegt das kleine Dorf – das sich erdreistet, ein Great im Namen zu tragen – in etwa gleich weit nördlich von London wie Brighton südlich. Mit gut zwei Stunden Reisezeit keine Distanz für geübte Bahnfahrer. Die Fahrt nimmt aber schon früh eine unliebsame Wendung. Nach wenigen Minuten empfiehlt mir eine Durchsage, den Zug zu verlassen. Gleisarbeiten. Noch nicht einmal in der Hälfte der Strecke bis zum ersten geplanten Umsteigen. Nun gut, sowas kommt vor. Der Ersatzzug kommt wenig später. Und gibt Anlass zur Freude. Es ist bereits eine Komposition der Londoner Tube. Und noch dazu von der Linie, auf die ich beim ersten planmässigen Halt sowieso umsteigen hätte müssen. Ich hab mich aber zu früh gefreut. Der Zug – eigentlich ja eine U-Bahn – fährt noch nicht mal bis in den Untergrund. Nach wenigen Kilometern ist bereits wieder Schluss. Gleisarbeiten. Zum nächsten Mal umsteigen. Wieder ein normaler Regionalzug. Ich fahre mit dem dritten Zug dorthin, wo mich bereits der erste Zug hätte bringen sollen. Ich beginne zu verstehen, woher der Ruf der englischen Bahn kommt. In London wechsle ich den Bahnhof. Mit einiger Verspätung. Riesige Anzeigetafeln verraten den unzähligen Reisenden, welcher Zug wohin auf welchem Gleis fährt. Die Destination Brighton suche ich vergebens. Informationen gibts auch keine. Schon gar kein Care-Team. Für Engländer scheint das kein aussergewöhnlicher Fall zu sein. Jeder hilft sich selbst. Irgendwann erbarmt sich ein Bahnhofsmitarbeiter und erklärt mir, wie in solchen Situationen vorzugehen ist. Wer in Richtung Süden reisen möchte, fährt einfach mal mit dem nächsten Zug Richtung Three Bridges. Das muss sowas wie ein Verkehrsknoten sein. Ich tu, wie mir gesagt. Es scheint sogar alles zu funktionieren und am Bahnhof Three Bridges entdecke ich tatsächlich einen Bahnmitarbeiter in oranger Weste, der die Gestrandeten in die richtige Richtung schickt. Mich schickt er zu einem Bus. Nun gut, immerhin kann auf den Strassen niemand Gleisarbeiten durchführen. Und wirklich, ich komme in Brighton an. In etwa fünf statt gut zwei Stunden. Zu Hause erzähle ich meiner Gastmutter, wie die Reise war. Sie lacht nur. Am Sonntag solle man in England nicht Zug fahren. Seit der Privatisierung gehörten die Gleise alle paar Kilometer einer anderen Gesellschaft. Wenn die sonntags an den Gleisen arbeiten wollten, dann täten sie das auch. Ohne die Gesellschaft davor oder danach zu informieren. Offenbar funktioniert das Bahnsystem in England nur werktags.

Es ist unglaublich heiss an diesem Sommertag im Cisalpino. Wir sind auf dem Rückweg aus Mailand. Wir wollten zum Fussball. Spitzenspiel, Meisterschaftsentscheidung, Milan gegen Juventus. Doch die Tickets auf dem Schwarzmarkt waren uns zu teuer. Also machten wir uns unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg. Kurz nach Bellinzona bleibt der Zug stehen. Die Klimaanlage solidarisiert sich und stellt den Betrieb ebenfalls ein. Die Fenster lassen sich in diesen pseudo-modernen Zügen nicht mehr öffnen. Die Luft wird stickig. Die kleine Bar in der Zugsmitte – dieses mondäne Teilstück, das wohl über die dauernden Ausfälle dieses Zugs wegtäuschen soll – macht Rekordumsätze. Irgendwann erbarmen sich die Zugführer. Die Türen gehen auf und die Passagiere dürfen aufs Schotter raus. So erhalten wir einen Blick, den man sonst wohl nie gehabt hätte. Gleich neben dem Gleisbett liegt eine der vielen Neat-Baustellen. Was man sonst im Vorbeifahren auf der Autobahn oder aus dem Zugfenster nur für kurze Zeit sieht, kann man jetzt genau beobachten. So schnell gehts hier nämlich nicht weiter. Die Lokomotive des Cisalpinos schaffts nicht den Gotthard hoch. Wer erwartet denn auch von einem Zug, der für die Gotthardroute konzeptioniert wurde, dass er den Gotthard hoch kommt? Eine zweite Lokomotive wird herbeigeschafft, die uns den Berg hochzieht. Schnell ist das nicht, aber es funktioniert.

Der Bahnhof Arth-Goldau ist wieder mal hektisch. Was mich jedes Mal erstaunt, wenn ich hier dank einer Zugverspätung auf der Reise ins Tessin strande. Eigentlich braucht man den Ort doch nur zum Umsteigen. Wer seinen Zug verpasst hat und sich hier die Zeit totschlägt, könnte es doch gemütlicher nehmen. Sich ins Bahnhofsbuffet gesellen und einen Kaffee trinken. Gut machen das nicht alle. Die Aufenthalte an einem der wichtigeren Verkehrsknoten der Schweiz wären bedeutend langweiliger, wenn man nicht beobachten könnte. Beobachten, wie gestresste Bahnreisende versuchen, den verpassten Zug mit hektischen auf und ab gehen zurück zu holen. Mich erinnert die Szenerie an die Menschen, dies jeweils kaum erwarten können, in den Stadtbus einzusteigen. Hektik, wo keine angebracht ist. Der verpasste Zug kommt genauso wenig wieder wie der Bus abfährt, bevor die Passagiere eingestiegen sind. Ich geniesse die unverhoffte Pause. So ein unfreiwilliger Halt ist nicht nur schlecht. Die Zigarette muss nicht im Halbsprint zwischen zwei Zügen geraucht werden. Und die Zugreise, eine der erholsamsten Beschäftigungen, verlängert sich um eine Stunde. Da stört es auch nicht weiter, wenn ein Traktorfahrer die Linie des Voralpen-Express beschädigt und man auf dem Weg ins Tessin Umwege in Kauf nehmen muss, die zwangsweise zu einem Aufenthalt in Arth-Goldau führen.

Die Schweiz ist mit einem hervorragenden Eisenbahnnetz gesegnet. Gute Verbindungen in die abgelegensten Orte. Ein Takt-Fahrplan, der seinesgleichen sucht. Manchmal klappt nicht alles. Man hält irgendwo, ohne zu wollen. Kein Grund zur Panik. Meist ist ein unverhoffter Halt halb so schlimm. Früher hatte ich noch darauf gehofft, dass etwas schief läuft. Wenn mich die Südostbahn – damals noch die Bodensee-Toggenburg-Bahn – in die Schule bringen sollte. Heute hoffe ich das nicht mehr. Wenns aber trotzdem passiert, stelle ich fest, wie erfreulich das sein kann. Man trifft Mitleidende auf dem Weg in die Ferien, die vielleicht sogar die Nervosität lindern. Man erhält Einblicke, die einem sonst verborgen blieben. Man kann beobachten, was man sonst vielleicht selber ist. Vielleicht muss man sogar weniger arbeiten. Manchmal dauerts auch etwas länger, bis man das Erfreuliche entdeckt. Und wenn das dann nur darin besteht, dass man nach einem England-Aufenthalt sagen kann, man hätte das Land wirklich kennen gelernt.

In diesem Sinne, liebe Bahnbetreiber: Bleibt gut, aber werdet bitte nicht besser!