Nach zwei Jahren soll das «Hooligan-Konkordat» bereits verschärft werden. Rechtsstaatliche Bedenken werden erneut mit dem Verweis auf ein angeblich immer schlimmeres Problem abgeschmettert. Das entbindet die Politik aber nicht davon, genau hinzuschauen.
Vor der Fussball-Europameisterschaft 2008 hat der Bund Gesetzesänderungen vorgenommen, die einen Imageschaden durch gewalttätige Fans an diesem weltweit beachteten Grossanlass verhindern sollten. Wegen verfassungsrechtlicher Bedenken wurden einzelne Massnahmen bis Ende 2009 befristet. Nach dem Auslaufen dieser gesetzlichen Grundlage hat die Konferenz der kantonalen PolizeidirektorInnen (KKJPD) eine Überführung der Massnahmen in ein Konkordat vorangetrieben. Das sogenannte «Hooligan-Konkordat» ist seit Beginn 2010 in Kraft. Sämtliche Kantone sind beigetreten.
Im Zweifel schuldig
Dieses Konkordat sieht eine Datenbank und Massnahmen wie Rayonverbote, Meldeauflagen, Präventivgewahrsam und Ausreisebeschränkungen vor. Davon betroffen ist, wer sich an Gewalttaten beteiligt. Definiert werden Gewalttaten mit einem Deliktkatalog, der sehr weit gefasst ist. Landfriedensbruch oder neu Hinderung einer Amtshandlung gehören auch dazu. Ob sich jemand schuldig gemacht hat, entscheiden nicht zwingend Richter, sondern im Zweifelsfall auch private Sicherheitskräfte mit «glaubwürdigen Aussagen». Es reicht schon, wenn «anzunehmen» ist, dass eine Massnahme nötig wird. Wer gegen eine zu Unrecht verhängte Massnahme vorgehen will, kann das tun. Aufschiebende Wirkung gibts aber keine. Einer der elementarsten Grundsätze eines Rechtsstaates lautet: im Zweifel für den Angeklagten. Das Konkordat kehrt diesen um. Wer seine Unschuld nicht beweisen kann, ist schuldig. Ein solches Papier ist eines Rechtsstaats unwürdig.
Private Sicherheitskräfte haben aber nicht nur die Möglichkeit, Fans in eine Staatsschutzdatei zu befördern. Sie dürfen, geht es nach der KKJPD, in Zukunft auch jeden Fan beim Betreten des Stadions ohne konkreten Verdacht im Intimbereich abtasten. Markus Mohler, ex-Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt, sieht darin eine Verletzung der Grundrechte und prophezeit diesem Artikel eine Ungültigerklärung vor Bundesgericht.
Um ein Sonderrecht, das in weiten Teilen einem Parallelstrafrecht gleicht, für eine bestimmte Gruppe zu rechtfertigen und gar eine Verschärfung zu fordern, wird mit Zahlen hantiert, deren Wahrheitsgehalt angezweifelt werden darf. Die KKJPD begründet die Notwendigkeit damit, dass sich die Situation immer verschlechtere. Die Zeitschrift «Beobachter» ist der Sache auf den Grund gegangen. Offizielle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: 2009 kam es zu 327 Verzeigungen aufgrund von Gewaltstraftaten in Stadien, davon fünf schwere. Im Jahr 2010 ging die Anzahl Verzeigungen gar um 7% zurück. Die Zeitschrift rechnet aus: Auf rund 13‘000 Zuschauer kommt eine Verzeigung. Natürlich, jede einzelne davon ist eine zu viel. Trotzdem ist die angebliche Zunahme nicht zu beobachten.
Gewalt ist gesunken
Das belegen auch die stetig steigenden Zuschauerzahlen. Die schweizerische Fussballliga vermeldete in den letzten Jahren immer wieder Rekorde. Und trotzdem versuchen uns viele PolitikerInnen glauben zu machen, dass sich Familien nicht mehr in die Stadien getrauen. Sogar Roger Schneeberger, KKJPD-Generalsekretär sagt, dass eine «nicht repräsentative Umfrage mehrheitlich die Einschätzung ergab, dass eine Zunahme der Gewalt festzustellen ist». Konkrete Zahlen? Fehlanzeige.
Derselbe Realitätsverlust lässt sich in der Diskussion um die Fussball-Extrazüge erkennen. Die SBB sprach jahrelang davon, dass die Fans drei Millionen Franken Sachschaden pro Jahr verursachen. Interne Papiere, die von der «WochenZeitung» publik gemacht wurden, zeigen aber, dass sich der Schaden auf nicht einmal 10% dieser Summe beläuft. Auch hier ist festzuhalten: Jeder Franken ist zu viel. Wer aber die Augen vor den tatsächlichen Verhältnissen verschliesst und polemisiert, macht sich mitschuldig an der Überzeichnung des Problems. Wohin das führen kann, ist bekannt. Die Fanarbeit Schweiz stellt fest: «Diese Stigmatisierung einer ganzen Fangruppe unterstützt die Solidarisierung der gemässigteren Fans für radikale Ideen und Verhalten, die bis zu einer Gewaltlegitimierung führen können.»
Aus Prinzip ein Sicherheitsrisiko
Das soll nun sogar noch verstärkt werden. Wer seine Mannschaft auch an Auswärtsspiele begleiten will, wird prinzipiell als Sicherheitsrisiko angesehen. Geht es nach der KKJPD, so reisen die Fans bald nur noch mit Kombitickets an Auswärtsspiele. Das heisst: Wer ein Ticket für den Gästesektor will, hat sich an einer vorher festgelegten Reise zu beteiligen. Will ein in Zürich wohnhafter FCSG-Fan beispielsweise das Spiel FC Zürich–FCSG im St.Galler Sektor verfolgen, muss er wohl zuerst nach St.Gallen reisen, um am organisierten Transport teilzunehmen. Und nach dem Spiel muss er über St.Gallen den Heimweg antreten. Die Einschränkung der persönlichen Freiheit ist immens, die Wirksamkeit zumindest umstritten.
Das Hooligan-Konkordat lässt sich in seiner jetzigen Form schon kaum rechtfertigen. Eine Verschärfung ist nicht angebracht. Schon gar nicht, ohne den längst überfälligen Ausgleich zwischen Repression und Prävention zu schaffen. Im Konkordatstext wimmelt es von Formulierungen, die einschneidende Massnahmen aufgrund von geringfügigen Delikten und sogar auf blosse Vermutung hin ermöglichen. Es ist die Pflicht aller PolitikerInnen, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Es ist inbesondere die Pflicht der SP, kein Sonderstrafrecht für eine bestimmte Gruppe zu befürworten. Heute sind es Fussballfans, morgen vielleicht Demonstrierende.
(Anmerkung: Diesen Artikel habe ich für das Politmagazin der SP St.Gallen geschrieben. Das ganze Magazin findet sich hier. Der St.Galler Kantonsrat wird das Geschäft noch in der April-Session behandeln.)
Update (13. April): Die Kommission für Aussenbeziehungen befürwortet die Verschärfungen (siehe Medienmitteilung). Es ist zu befürchten, dass diese Haltung auch im Kantonsrat obsiegt. Offenbar ist blinder Aktionismus, der sich kontraproduktiv auswirken wird, vielen Politikerinnen und Politikern wichtiger als eine richtige Analyse.
Update (14. April): Das Tagblatt greift den Kommissionsentscheid auch auf. In einem Nebensatz wird erwähnt: „Spiele der Clubs unterer Ligen oder anderer Sportarten kann die zuständige kantonale Behörde unter bestimmten Voraussetzungen für bewilligungspflichtig erklären.“ Darauf bin ich in meinem Artikel nicht eingegangen, hätte bei Gelegenheit aber auch eine vertiefte Betrachtung verdient. Das Konkordat bietet nämlich dem Staat – und somit wohl häufig der Polizei beziehungsweise dem Chef der Polizei – die Möglichkeit, alles bewilligungspflichtig zu machen, was er nur will. Ein Freipass für regulierungswütige Polizisten?
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